Frage: BV Bundesverband NeMO. Vor 5 Jahren in Dortmund gegründet. Heute ein bundesweites Netzwerk: 22 Verbünde mit rund 800 kommunalen Organisationen und mehreren zehntausend ehrenamtlichen und Vollzeit-Beschäftigen in Deutschland. Kompetent, nah an den Geflüchteten. Wie blickst du auf diese 5 Jahre zurück: Stolz, nie wieder, zu langsam oder viel zu schnell?
Dr. Ümit Kosan: Unsere 800 Vereine im bundesweiten NeMO-Netzwerk haben ca. 35.000 Mitglieder, die in vielen Bereichen der Migrations- und Flüchtlingsarbeit aktiv sind. Unsere Vereine verantworten seit fünf Jahren in ihren Kommunen viele Projekte, die aus Kommunal, Landes- und Bundesmitteln gefördert werden. Ich gehe davon aus, dass ungefähr 600 bis 800 Teil- und Vollzeit-Beschäftigte in unseren Projekten tätig sind und natürlich ganz viel Ehrenamtliche. Darauf sind wir erst einmal recht stolz. Zunächst ist aber ein bisschen Bescheidenheit angesagt. Insbesondere im hauptamtlichen Bereich sind wir noch ungenügend ausgestattet. Genauer: im hauptamtlichen Bereich in unseren zwei Geschäftsstellen in Dortmund und Berlin benötigen wir dringend mehr Mitarbeiter*innen, die sich um die Vereine und Verbünde, unsere Mitglieder, kümmern. Die Strukturförderung des Bundes, die wir erhalten, ist knapp kalkuliert und die individuellen kommunalen Förderungen sind in vielen Städten noch nicht ausreichend gesichert oder überhaupt noch nicht vorhanden.
Aber: ja. Ich bin stolz darauf, dass der Bundesverband Netzwerke von Migrant*innen-Organisationen so dynamisch gewachsen ist. Der Grund liegt in unserem Konzept: lokale Verbünde, aktuell 22, die herkunfts- und kulturübergreifend, säkular und demokratisch aufgestellt sind und jeweils vor Ort laut und engagiert ihre Stimme erheben, Forderungen stellen und vor allem praktisch mitgestalten wo die Menschen leben, nämlich „vor Ort“.
Noch eines: wir sind offen für alle Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Die Arbeit mit Geflüchteten ist ein wichtiger, aber eben nur ein Bereich, in dem wir sehr aktiv sind.
Die aktuelle Situation fordert natürlich einen enormen Einsatz von den Organisationen vor Ort durch die Corona-Krise, da die Geflüchteten besonders hart betroffen sind. Da sind in den vergangenen Monaten viele Erwartungen entstanden und an den BV NeMO gestellt worden. Könnt ihr diese erfüllen?
Dr. Kosan: Die Geflüchtetenarbeit ist nur ein, wenn auch wichtiger, Tätigkeitsbereich. Der uns vor viele Herausforderungen stellt. Von der Corona-Krise sind Menschen mit Einwanderungsgeschichte, vor allem aufgrund ihrer sozialen Lage, überproportional betroffen. Und Geflüchtete, die z.B. immer noch in Gemeinschaftsunterkünften leben müssen, sind die ‚Verlierer‘ der Pandemie, da sie sich noch im Prozess des Ankommens befinden und oft traumatische oder Dejavu-Erlebnisse verarbeiten müssen.
Wir können leider nicht alle Erwartungen erfüllen, die an uns gestellt werden, da die Corona-Krise in allen Strukturen die Menschen in Deutschland herausfordert. Wir bemühen uns sehr, vor allem auch unsere ehrenamtlich Aktiven, die meist selbst eine eigene Migrations-Geschichte haben. Sie sind nahe bei den Menschen und durch selbst erlebte Erfahrungen und Kommunikation in vielen Sprachen entsteht Vertrauen. Wir arbeiten in Kooperationen mit Ärzten und Gesundheitsexpert*innen zusammen. Es gibt bereits gute Erfahrungen, die wir gemacht haben. Ich sehe, wie unsere Strukturen kreativ waren und sind, vor allem sehr solidarisch handeln. Und wir sind überzeugt, dass bei der Bewältigung der Corona-Krise Migrant*innen-Organisationen unverzichtbar sind.
In der Coronakrise sind enorm viele Probleme entstanden, vor allem bei den jüngeren Menschen mit Migrationshintergrund: keine Chance auf fördernden Unterricht zuhause, Isolation durch Ausgangsbeschränkungen oder viel zu wenig soziale Kontakte – um einige wichtige zu nennen. Hat der BV NeMO hier eigene Konzepte entwickelt, um die Defizite möglichst schnell aufzuholen?
Dr. Kosan: Wir sehen tatsächlich, dass es gravierende Probleme gibt und Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene besonders betroffen sind, aber auch deren Familien, denen unglaublich viel zugemutet wird. Nachhilfe nach bekanntem ‚Muster‘ wird nicht wirklich weiterhelfen – vor allem nicht bei jenen, die mit der konventionellen Schule ohnehin Probleme haben. Unser Ansatz ist eine fantasievolle ‚Nachholende Bildung‘, die mit Lern-Lust und Lebensfreude verbunden ist. Wir selbst haben dies schon mit eigenen Aktionen in einem ‚Sommer und einem Winter der Bildung und Lebensfreude‘ erprobt – denken aber, dass dies in diesem Sommer auf eine viel breitere Basis gestellt werden muss. Zweitens hat sich gezeigt, dass die Schulen mehr sein müssen als „Lernmaschinen“ und drittens und weil wir auf der lokalen Ebene aktiv sind, fordern wir: nicht zurück zum „Weiter so“, sondern fordern kommunale Pläne für bildungsaktive Einwanderungsstädte, in denen niemand zurückbleibt.
Eines der wichtigsten Projekte des Bundesverbandes war das bundesweite Projekt ‚samo.fa – Stärkung der aktiven Migranten-Organisationen in der Flüchtlingsarbeit‘. Dieses erfolgreiche Bundesprojekt wird zum Jahresende 2021 beendet. Wird die begonnene Betreuung der Geflüchteten lokal weitergeführt?
Auch hier ist die Antwort nicht einfach. Zum einen: Viele Städte haben sich verändert, auch durch unsere Initiativen sind diese heute offener, haben sich Geflüchteten zugewandt und viele Städte sind heute bereits Mitglied des lokalen Bündnisses ‚Sichere Häfen‘. Zum anderen, klar und deutlich: natürlich machen wir weiter. Wenn es brennt, z.B. aktuell durch die jetzt erforderlichen Maßnahmen nach Corona, rechnet die Politik damit, dass es engagierte
ehrenamtliche Leute gibt, die vor Ort wichtige Aufgaben übernehmen. Und somit sind wir, sind die Mitglieder des BV NeMO-Netzwerkes bereit. Aber das ist nicht genug: Wir weisen darauf hin: Arbeit mit Geflüchteten ist eine lokal-kommunale Daueraufgabe, die ohne Migrant*innen-Organisationen nicht zu machen ist. Um erfolgreich die aktuell anstehenden vielen Aufgaben vor Ort und mit den Menschen gemeinsam zu meistern, ist eine umfangreichere Förderung der bisher aufgebauten Strukturen und Kompetenzen unverzichtbar. Diese Strukturen haben wir in 5 Jahren an allen 32 Standorten erfolgreich aufgebaut und es wäre fatal, wenn für dieses enorme Potential keine vernünftige und notwendige Weiterführung gefunden wird.
Ein weiteres Bundesprojekt, welches in den vergangenen Monaten sehr an Bedeutung gewonnen hat: Anti-Rassismus und Anti-Diskriminierung. Ein Projekt welches sehr viel Präsenz vor Ort erfordert und sehr viel Mut, da die ‚Gegner‘ nicht zimperlich sind. Sind die Migranten-Organisationen des BV NeMO auf diese Situationen vorbereitet?
Wenn wir in die Geschichte der Bundesrepublik zurückschauen, z.B. mit rassistischen Übergriffen Anfang der 90er Jahre (Mölln, Rostock, Hoyerswerda als Beispiel, aber z.B. auch Dresden und viele andere Städte in Ost und West), dann waren es vor allem Menschen aus Migrant*innen-Organisationen oder mit diesem Erfahrungshintergrund, wie z.B. jüdische Organisationen oder Organisationen der Sinti, die sich dagegengestellt haben. Es fehlt nicht an Überzeugung und auch nicht an Mut. Es fehlt an „Infrastruktur“: Weiterbildung, Kooperationsnetze, vor allem aber auch niedrigschwellig zugängliche eigene Räume/Häuser, die praktische Solidarität möglich machen. Unser eigenes Projekt hilft z.B. mit Bürger*innen-Dialogen, aber auch mit Informations-Flyern und Postern, Workshops. Immer aktiv dabei: die Vereine und Verbünde, die mit uns arbeiten. Wir wollen in diesem Feld noch kompetenter und handlungsfähiger werden, um nachhaltig eine Veränderung der Gesellschaft gegenüber Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit zu erreichen. Nur so schaffen wir eine gut miteinander lebende gemeinsame Stadtgesellschaft.
Zu Beginn habe ich gefragt, wie der Blick zurück ist – auf 5 Jahre BV NeMO. Wie ist denn dein ganz persönlicher Ausblick für die kommenden 5 Jahre?
Meinen Ausblick für die kommenden 5 Jahre würde ich so formulieren:
1 – Wir wachsen weiterhin so dynamisch und weitere, möglichst 28, Verbünde aus allen Bundesländern werden aufgenommen. Somit wären wir unter unserem Dach und in unserem Netzwerk 50 aktive Verbünde.
2 – Der Aufbau einer bundesweiten Organisation, wie wir es sind, ist eine Herausforderung. Hier geht es vor allem um die Professionalisierung der Strukturen vor Ort, bei den Partnern. Ich wünsche mir, dass wir weniger wie ein „Verein“ funktionieren, sondern mehr wie eine lebendige Bewegung. Ich wünsche mir, dass es uns gelingt, dass unsere Stimme, unsere Kompetenz mehr wahr-
genommen wird. Daran arbeiten wir aktuell mit neuen Formaten, wie z.B. Aktionstagen im aktiven Wechsel zwischen lokaler, Landes- und Bundesebene.
3 – Unsere Verbünde haben die Chance, die Teilhabepolitik mit mehr Bewusstsein und Verantwortung zu gestalten, so dass wir nicht nur als Experten und Aktive vor Ort, sondern auch als demokratische Kraft mit unserem Bundesverband auf der bundespolitischen Ebene ein beachtliches Gewicht bekommen.
4 – Und last but not least: Die Beiträge der Migrant*innen-Organisationen sollten mehr wertgeschätzt, anerkannt und entsprechend honoriert werden, so dass diese zukünftig ein akzeptierter Teil der politischen und gesellschaftlichen Entscheidungs-Strukturen vor Ort werden.
Im Juni präsentiert sich das Netzwerk bundesweit: mal sachlich, mal spektakulär. Was ist geplant?
Es wird zwei Veranstaltungen geben, die zeitlich nahe beieinanderliegen und thematisch sehr eng miteinander verbunden sind. Zunächst findet am 11.Juni unsere jährliche Bundesdialogkonferenz des Projektes „samo.fa“ statt, welches nach fast 6 Jahren in dieser Form beendet wird. Wichtigstes Thema für uns: Was haben wir in dieser Projektzeit gelernt und weiter vermittelt und was sollte unbedingt in die bald kommende ‚Zeit danach‘ – vor allem auf der kommunalen Ebene – geschehen. Denn es muss weitergehen. Am Weltflüchtlingstag, 20. Juni, ich würde lieber sagen Welt-Geflüchteten-Tag, senden wir einen Livestream aus Potsdam. Hier steht unsere Forderung im Zentrum, dass Geflüchtetenarbeit eine kompetent umgesetzte und funktionierende lokal-kommunale Daueraufgabe unter notwendiger Beteiligung von Migrant*innen-Organisationen sein muss.
Am 8. Juni laden wir zu einem Pressegespräch in unsere Räume in Berlin ein und am 12.Juni zu einer digitalen Mitgliederversammlung. Denn der BV NeMO ist nur zukunftsfähig mit einem lebendigen internen demokratischen Leben.
Zum Geburtstag bekommt man Geschenke. Wenn du 3 Wünsche frei hast – ohne Einschränkung – welches sind deine 3 wichtigsten Wünsche?
1- Das junge Menschen auch Verantwortung übernehmen und in den Vorständen unserer Verbünde und im Vorstand unseres Bundesverbandes aktiv daran mitarbeiten, eine diskriminierungsfreie Gesellschaft mit zu gestalten.
2- Die Vorsitzenden unserer Verbünde werden, ergänzend zu den Mitgliedern des Integrations-Rates, Migrations-Bürgermeister*innen in ihren Städten.
3- Unser Bundesverband bekommt die Anerkennung als ein Wohlfahrtverband.
Das Gespräch führte Wolfgang Riehn (samo.fa MG)
(22.05.21)