Capernaum: Stadt der Hoffnung – jetzt im Kino

In Handschellen wird ein kleiner Junge am Anfang des Films einem Richter vorgeführt. Als er zu seinem Verbrechen etwas sagen soll, sagt das Kind: „Ich will meine Eltern anklagen“. So beginnt der Film, der dann in Rückblicken eine Geschichte erzählt, bei der es den Zuschauern kalt ums Herz wird.

Wie alt Zain ist, wissen nicht einmal seine Eltern. Denn gekümmert haben sie sich nie um ihn. Und auch nicht um ihre vielen anderen Kinder. Zain wird auf 12 Jahren geschätzt, als er im Gefängnis landet, weil er einen Mann erstochen hat. Was er davor in seinem kurzen Leben schon alles erlebt und ertragen hat, übersteigt jede Vorstellung. In seinem Blick liegen Wut, Verzweiflung, Verletzlichkeit, Trauer. Es ist das Gesicht eines Kindes, das nie eine Kindheit hatte. Selbst der Schulbesuch wurde ihm und den Geschwistern von den Eltern verweigert. Er muss arbeiten, um die Familie zu ernähren. Als die Eltern seine geliebte Schwester Sahar im Alter von 11 Jahren zwangsverheiraten, hält Zain es nicht mehr aus. Er flüchtet von Zuhause.

In der Großstadt Beirut trifft er auf Rahil, eine ebenfalls Geflüchtete. Sie stammt aus Äthiopien, arbeitet illegal als Putzfrau in einem Freizeitpark und lebt in ständiger Angst vor der Entdeckung. Rahil hat einen kleinen Sohn, den sie abgöttisch liebt. Tagsüber hält sie Jonas  in einer Toilette versteckt. Denn Jonas ist natürlich auch illegal und wenn er auffällt, wird man ihm ihr wegnehmen. Rahils Figur zeigt, dass Menschlichkeit auch unter den schlimmsten Bedingungen gedeihen kann. Sie zeigt, dass Armut und Chancenlosigkeit nicht gleich bedeuten, dass Kinder ohne Liebe aufwachsen müssen. Obwohl sie selbst kaum über die Runden kommt, nimmt sie Zain wie einen Sohn auf. Als Rahil nach einer Razzia ins Gefängnis kommt, kümmert sich Zain, selbst noch ein Kind, um den kleinen Jonas, bis er ihn ohne es zu ahnen, einem Menschenhändler überlässt. Dieser Mann, dessen Geschäfte auf die Hoffnungen verzweifelter Menschen beruhen, verspricht Zain eine Überfahrt  nach Schweden. Zain muss nur noch eine Geburtsurkunde besorgen und schon könne er  aufbrechen. Zain kehrt nach Hause zurück, um Papiere von seinen Eltern zu fordern, und erfährt, das Sahar gestorben ist. Ihr 11-jähriger Körper war noch nicht reif für eine Schwangerschaft, sie ist vor dem Krankenhaus verblutet. Auch, weil die Eltern keine Papiere für eine Behandlung vorzeigen konnten. Zain dreht durch und sticht auf den Mann ein, den er für den Tod seiner Schwester verantwortlich macht. Für dieses Verbrechen kommt er ins Gefängnis.

Zain und seine geliebte Schwester Sahar © Alamode Film

In Zains Augen sind auch die Eltern Mörder, denn sie haben sich nie um ihre Kinder gekümmert. Als seine Mutter ihn nach der Tat im Gefängnis besucht, sagt sie „Wenn Gott dir etwas wegnimmt, schenkt er dir etwas Neues“. Sie ist wieder schwanger. Fassungslos und voller Verzweiflung rennt Zain aus dem Besuchszimmer, schmettert die Bonbons, die sie ihm gebracht hat, in die Tonne. Er will nicht glauben, dass diese Eltern noch ein Kind in die Welt setzen, obwohl sie bereits sieben haben, die alle ein Leben in Elend führen.

Wer Zains Leben zwei Stunden lang auf der Leinwand verfolgt hat, möchte sich der Anklage anschließen. Doch vor Gericht verteidigen sich die Eltern: Sie haben im Rahmen ihrer Möglichkeiten gehandelt. Die Mutter weint. Auch sie habe ihre Tochter verloren, erinnert sie den Richter. Und der Vater legt nach, es sei für die Kinder besser, gleich zu wissen, wie die Welt aussieht, wenn man in ein System hineingeboren wird, das nicht gleiche Chancen für alle biete. Wer also soll diese Eltern verurteilen? Die Anklage wird fallen gelassen, der Fall zu den Akten gelegt.

©Alamode Film

Dieser Film zeigt, wie das Leben für viele Menschen im Libanon aussieht. Es geht um Menschen am untersten Rande der Gesellschaft, um überforderte Eltern, verwahrloste Kinder, das Leben im Untergrund als Geflüchtete. Der Film handelt auch von Schleppern und Menschenhändlern, die ihre Geschäfte mit der Verzweiflung machen, und zeigt das ganze Elend, das Krieg, Flucht und Vertreibung mit sich bringen. Vor diesem Elend darf man nicht die Augen verschließen, auch wenn der Anblick extrem weh tut.

Gleichzeitig bleibt ein Funke Hoffnung. Am Ende blickt Zain in eine Kamera. Er soll lächeln, sagt eine Stimme. Das Foto soll in seinen Ausweis. Er bekommt endlich Papiere – und somit eine legale Identität.

„Capernaum“ bezeichnet im Hebräischen eine ungeordnete Ansammlung von Objekten, einen Ort voller Chaos. Einen solchen Ort zeigt die libanesische Regisseurin Nadine Labaki in diesem Film, der wahrlich keine leichte Kost bietet. Dennoch möchte ich diesen Film wärmstens empfehlen. Er ist hervorragend authentisch gespielt von einem Cast von Laiendarstellern, die eins gemeinsam haben: alle verbindet eine Fluchterfahrung. Wie das Leben als Geflüchteter, als Papierloser, als Illegaler ist, das zeigen sie auf der Leinwand bis zur Schmerzgrenze des Zuschauers.

Der Film ist übrigens im Oscar-Rennen als Bester Nicht-englischsprachiger Film nominiert worden und ist derzeit im Kino zu sehen.

Regie: Nadina Labaki

Darsteller: Zain Al Rafeea, Yordanos Shiferaw, Boluwatiff Treasure bankole, Kawthar Al Haddad, Cedra Izam u.v.m.

 

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