Yaa Gyasis zweiter Roman ist die Geschichte einer Einwandererfamilie in den USA, ein Roman über die vielen Hürden, die Migranten aus Afrika überwinden müssen, um in der neuen Heimat anzukommen, aber auch ein Roman über Glauben, Religion und Wissenschaft. Und ein Roman über Liebe; die Liebe zur Familie, die Liebe zur Heimat.
Die Familie ihrer Protagonistin Gifty stammt, wie die Autorin auch, aus Ghana und lebt nun in Alabama. Gifty selbst ist in den USA geboren, eine Amerikanerin also, ihr älterer Bruder Nana ist als Kleinkind mit der Mutter nach Amerika gekommen. Die Mutter ist anfangs alleinerziehend – der Vater kommt erst später nach – und sie wird es später wieder. Denn ihr Mann hält das Leben als Migrant nicht aus und nach ein paar Jahren gemeinsamen Familienlebens verlässt er die Familie und kehrt nach Ghana zurück. Die Mutter, tief verletzt, entdeckt danach eine Baptistengemeinde für sich und führt fortan nur noch ein Leben zwischen Arbeit und Religion. Den Weggang des Vaters hat Nana, das ältere Kind, genauso wenig verkraftet wie die Mutter, und er kompensiert mit Sport – und Drogen. Im Alter von 17 Jahren stirbt er an einer Überdosis Heroin. Die Mutter zieht sich danach immer mehr in ihre religiöse Welt bzw. in eine Depression zurück.
Gifty wird zu ihrer Tante nach Ghana geschickt, als die Mutter in eine Klinik kommt. Dort besucht sie mit der Tante einen belebten Markt in Kumasi, als ein abɔdam – ein „Verrückter“- an ihnen vorbeiläuft. Das Mädchen, in den USA sozialisiert und zum ersten Mal in Ghana, starrt diesem Mann hinterher. Mit dem stimmt doch offensichtlich etwas nicht, denkt sie. Doch er wird nicht weiter von den Menschen beachtet. Sein seltsames Verhalten scheint niemandem zu stören. Mit dieser Erinnerung beginnt der Roman.
Jahre später, Gifty ist inzwischen Doktorandin und lebt nicht mehr in den einschränkenden Südstaaten sondern im weltoffenen Kalifornien, wo sie an der illustren Stanford School of Medicine im Fachbereich Neurowissenschaften das Belohnungsverhalten von Mäusen sowie die neuronalen Schaltkreise von Depression und Sucht untersucht, erinnert sie sich immer wieder an diese seltsame Begegnung auf dem Markt. Ihre depressive und selbstmordgefährdete Mutter lebt mittlerweile bei ihr und verlässt das Bett nicht. Gifty ist entschlossen, die wissenschaftliche Grundlage für das Leiden, das ihren Bruder in die Sucht und die Mutter in die Depression geführt hat, zu ergründen.
Dabei wird sie immer wieder mit der Religion und dem Glauben ihrer Mutter konfrontiert und ihr wird klar, dass psychische Erkrankungen ein kulturell geprägtes Phänomen sind, von denen verschiedene Kulturen ganz eigene Vorstellung haben. Was als Krankheit gilt und wie Heilung aussieht sind in Ghana und den USA sehr unterschiedlich. In der Twi Sprache, der Sprache, die in Kumasi gesprochen wird, wo ihre Mutter vor Amerika lebte, gibt es bis heute kein Wort für Depression, wohingegen in der westlichen Kultur Depression zur Liste der häufigen Krankheiten gehört. Die vorherrschende Überzeugung in Ghana ist immer noch, dass psychische Krankheiten eine Vergeltungsmaßnahme der Ahnen oder eine spirituelle Krankheit sind. Dieser Glaube fördert ein pluralistisches Verhalten bei der Gesundheitssuche. Es kann zwar die Inanspruchnahme von Krankenhäusern und Schulmedizin einbeziehen, verlagert aber den Glauben oder die Hoffnung auf Heilung eher in den Bereich des Spirituellen, also in die Hände Gottes oder die Kirche. So begibt sich Giftys Mutter anfangs in eine Klinik, doch Heilung erwartet – und erfährt sie dort nicht. Danach verweigert sie jede Hilfe, liegt nur noch im Bett. Die Tochter macht es sich zur Lebensaufgabe wissenschaftlich zu entschlüsseln, warum ihre Mutter krank geworden ist und wie sie ihr helfen kann. Doch Giftys Versuche, eine naturwissenschaftliche Erklärung und folglich eine Lösung für das Problem der Mutter zu finden, bleiben ohne Erfolg. Stattdessen sieht sich Gifty immer wieder mit dem eigenen verlorenen Glauben konfrontiert. Längst meint sie sich abgeseilt zu haben von der First Assemblies of God Baptistenkirche, die ihre Kindheit überschattet und das Leben der Mutter dominiert hat. Doch am Ende des Romans sitzt sie in einer Kirche, hat sich mit Gott scheinbar versöhnt und versucht „Ordnung zu schaffen, einen Sinn zu finden, eine Bedeutung in dem ganzen Durcheinander“. Mehr kann man als Mensch auch nicht tun.
Yaa Gyasi: Ein erhabenes Königreich, DuMont Verlag, 2021, ISBN 978-3-8321-8132-1, € 16,99
Am 30. September 2021 präsentiert die Autorin ihren Roman im Literaturhaus Köln. Mehr Infos dazu HIER.
(ado/28.08.21)