Flucht & Migration – kein Thema beherrscht heutige Debatten und Diskurse mehr als dieses. Über 65. Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Und hinter jeder einzelnen Zahl steck ein menschliches Schicksal. Wie das des Protagonisten des Romans „Ohrfeige“, der eines Tages die Ausländerbehörde betritt, um ein letztes Mal seine zuständige Sachbearbeiterin Frau Schulz aufzusuchen. Der ich-Erzähler ist Flüchtling und er ist wütend. Sein Asylantrag ist abgelehnt worden. Er soll abgeschoben werden. Aber bevor er geht hat er einen Wunsch: dass ihm endlich jemand zuhört. Er knebelt und fesselt Frau Schulz an den Bürostuhl und verpasst ihr eine Ohrfeige. Und dann redet er. „Ich bin einer der vielen, deren Akten Sie gelesen und bearbeitet haben, um sie wieder abzulegen. Karim Mensy heiße ich. Hallo.“
Im Laufe des fast 300-seitigen Monologs erfahren wir, was Karim alles durchgemacht hat. Wie er mit Hilfe von Schleppern seine Heimat Irak verlassen hat, um an einen vermeintlich besseren Ort zu gelangen. Er hat Formulare ausgefüllt, er hat Deutschkurse besucht, er musste die ganze Wucht der deutschen Behördenbürokratie über sich ergehen lassen. Es hat ihm nicht geholfen. Er erhält eine Ausweisungsbescheinigung. Doch zurück in das Chaos von Irak will Karim nicht, dort hat er keine Zukunft. „Was bedeutet es für mich, wenn ich weder in der Heimat noch in der Fremde leben darf?“ fragt er Frau Schulz, die ihn zum Illegalen gemacht hat. Während Karim seine Geschichte erzählt, erfährt man einiges über die Vorgehensweise der Schlepper, über arrangierte Ehen, über den Weg von Rücküberweisungen in den Irak, über Schwarzarbeit in Deutschland, über den Rassismus der deutschen Polizei, über das Leben von Menschen, die bei uns unerwünscht sind, und sich nichts sehnlicher wünschen, als ein Leben in Frieden und Würde. „Wir sind alle wie die geschmacklosen und billigen Produkte aus dem Ausland, die man bei Aldi und Lidl finden kann. Wir werden mit dem Lastwagen hierhergeschleppt, wie Bananen oder Rinder, werden aufgestellt, sortiert, aufgeteilt und billig verkauft. Was übrig bleibt, kommt in den Müll“, fasst Karim die Lage von Geflüchteten in Deutschland zusammen.
Die Frage, die Khider in „Ohrfeige“ aufwirft, ist eine der zentralen Fragen unserer Gegenwart: Wir rühmen Freiheit und Demokratie, wir predigen die Religion der unantastbaren menschlichen Würde. Doch warum gilt unser Selbstverständnis einer offenen Gesellschaft nicht für alle hier lebenden Menschen gleichermaßen? Was bedeutet es für einen Menschen, wenn er keinen Ort hat, an dem er sein darf?
Die Situation der Ohnmacht und Sprachlosigkeit hat Abbas Khider selbst erfahren. Der Autor floh 1996 vor dem Saddam-Regime aus dem Irak und kam 2000 als Asylbewerber nach Deutschland, nachdem er mehrere Jahre als Flüchtling durch Jordanien, Libyen und der Türkei gezogen war. Heute besitzt er die deutsche Staatsangehörigkeit und lebt in Berlin. (ado)
Abbas Khider: Ohrfeige, Carl Hanser Verlag, ISBN 978-3-446-25190-9, € 19,90