#1 Eine ganz normale Odyssee!? Ein persönlicher Erfahrungsbericht

André (Jahrgang 1979, Name geändert) hat eine Frau und drei Kinder. Als gelernter Fliesenleger arbeitete er in Yaoundé, der Hauptstadt Kameruns. Nach den gewaltsamen Unruhen in Jahre 2008, die durch die zunehmenden Lebensmittelspekulationen auf den internationalen Finanzmärkten, die die Preise für Grundnahrungsmittel vor Ort in die Höhe schnellen ließen, mitausgelöst worden waren, beschloss er seine Heimat zu verlassen. Dies fiel ihm angesichts der Tatsache, dass er seine Familie zurücklassen musste, nicht leicht. Aber es bestand Gefahr für Leib und Leben. Zudem war er infolge der Tumulte seiner Anstellung und somit seiner ökonomischen Grundlage beraubt worden.

Mit einem Bekannten verließ er Anfang August 2008 das Land. Schon in Nigeria – in der Nähe der Stadt Kano im Norden des bevölkerungsreichten Staats Afrikas – wurde ihr aus zwei Peugeot-Pickups bestehender Konvoi von Anhängern der islamistischen Terrormiliz Boko Haram überfallen. Alle Insassen des ersten Fahrzeugs wurden getötet. Von den 15 Insassen des zweiten Fahrzeugs, in dem auch André saß, wurden sieben getötet. Er selbst hatte gleich zweimal Glück: Zum einen kam er mit dem Leben davon. Außerdem wurde ihm „nur“ das Geld geraubt, das er in der Hosentasche hatte, umgerechnet ca. 25 Euro. Die restlichen 200 Euro hatte er gut versteckt gehabt.

Nach einer Nacht in Kano ging es weiter Richtung Niger. Sie passierten die auf Flüchtlingsrouten nicht unbedeutenden Orte Agadez und Arlit und drangen dabei immer tiefer in die Wüste ein. Dort erlitt das mit 22 Insassen besetzte Fahrzeug eine Panne, die die Weiterfahrt für etwa eine Woche unmöglich machte. Sieben Menschen starben in dieser Zeit aufgrund von Nahrungsmittel- und vor allem Wasserknappheit. Erst als ein Fahrzeug vorbeikam, konnte die Panne behoben werden und die Fahrt in Richtung Tamanrasset (Süden Algeriens) weitergehen, wo man sich fünf Tage gegen Bezahlung nach den erlittenen Strapazen erholen konnte.

Nächste Station war die westalgerische Küstenstadt Oran – Transit- bzw. (vorläufiger) Endpunkt vieler MigrantInnen. Dort konnte er sich drei Monate mit Gelegenheitsjobs auf dem Bau über Wasser halten. Dann wurde er von der Polizei festgenommen und zusammen mit ca. 200 weiteren „Illegalen“ mit zwei Militär-LKW in der Wüste Nordmalis ausgesetzt. Von dort aus machte er sich erneut in Richtung Norden auf. Über Algerien gelangte er nun nach Marokko. Die bisher geschilderte Odyssee, die im Rahmen dieses Texts nicht in all ihren Einzelheiten wiedergegeben werden kann, hatte schon zweieinhalb Jahre gedauert.

In Marokko war er zunächst etwa fünf Monate unterwegs und hielt sich dabei unter anderem in Fes, Nador, Tétouan und Oujda auf. Allein in Rabat blieb er dann ein Dreivierteljahr. Gelegenheitsjobs halfen ihm, zu überleben. In Nador wurde er von einer wütenden Gruppe überfallen, wobei er schwer verletzt wurde. Rassistische Übergriffe auf MigrantInnen aus den Staaten südlich der Sahara gehören in Nordafrika zum Alltag. Sie nahmen teilweise durch die Politik der europäischen Abschottung, in deren Rahmen nordafrikanische Regierungen seitens der EU finanziell und logistisch im Kampf gegen von Süden kommenden TransitmigrantInnen unterstützt werden, zu.

Andrés erster Versuch Europa zu erreichen, scheiterte kurz nach dem Start: Die marokkanische Polizei stoppte das nur mit Rudern ausgestattete Zodiac-Schlauchboot in unmittelbarer Nähe der spanischen Exklave Ceuta. Bei der in der Folge erlittenen Polizeigewalt wurde ihm ein Handgelenk gebrochen und ein Teil eines Fingers abgerissen.

Kurz darauf bewogen familiäre Gründe Andrés seit Beginn der Odyssee mit dabei gewesenen Bekannten dazu, wieder nach Kamerun zurückzukehren. André zog weiter in die Küstenstadt Tanger, wo ein erneuter Versuch einer Überfahrt nach Spanien schon von vorne herein an seinem unguten Bauchgefühl scheitere. Zwar wurde hier mit einer Vorhut sichergestellt, dass keine Küstenwache in der Nähe war. Aber das Meer war so unruhig, dass er davon absah, die Überfahrt anzutreten – und das trotz der umgerechnet 260 Euro, die er schon bezahlt hatte. Im Nachhinein erfuhr er, dass die sechs Bootsinsassen, die die Überfahrt gewagt hatten, es trotz teilweise gebrochener Ruder letztlich dennoch nach Spanien geschafft hatten. In der Folgezeit scheiterten erneute Versuche immer wieder entweder am Wetter oder aber an der Präsenz der Küstenwache.

Mittellos verließ er Tanger. Die anschließenden zwei Jahre verbrachte er in den Wäldern in der Nähe der spanischen Exklave Ceuta, wo zahllose Flüchtlinge – darunter laut André vor allem viele KamerunerInnen, IvorerInnen und KongolesInnen – in Grotten ein Leben in der Warteschleife fristeten (und dies noch immer tun). „Gott hat uns überleben lassen“ sagte André; durch hilfsbereite Menschen vor Ort, durch Abfälle oder aber auch durch das, was die Natur zu geben hat, gelang dies. Immer wieder starteten bis zu 700 Menschen sogenannte „Massive Attacken“ auf die Grenzzäune Ceutas. „20 schaffen es immer“ meinte er. Aber so eine Attacke ist auch immer mit vielen Verletzten und auch Toten verbunden. Neben diesen „Massiven Attacken“ versuchte es André aber auch immer wieder „à la sicilienne“ – also auf die sizilianische Art – was bedeutet, dass der Versuch mit wenigen Leuten im Stillen unternommen wird und dabei immer zwei, drei Leute eine Art spähende Vorhut bilden. Auch hier war André kein Erfolg beschieden.

Am 6. Februar 2014 wurde wieder eine „Massive Attacke“ gestartet, an der etwa 800 Menschen teilnahmen. Nicht über die Grenzzäune, sondern über den Seeweg – also von der marokkanischen Küste in die nur durch eine Landzunge getrennten spanische Küstengewässer Ceutas. Laut André hatten viele bereits vorab ein ungutes Gefühl und nahmen daher nicht daran teil. Als sich die ersten aus der Gruppe – teilweise mit Rettungsringen oder Schwimmwesten ausgestattet, der Küste Ceutas näherten, wurden Warnschüsse ausgelöst. Darauf reagierte die spanische Guardia Civil zu Wasser und von Land aus mit einer sogenannten push-back-Aktion, indem sie versuchte, die MigrantInnen mit Gummigeschossen und dem Einsatz von Tränengas daran zu hindern, an Land zu gehen. Dabei wurden viele verletzt und offiziellen Angaben zufolge 15 Menschen getötet. André verlor ein Auge und erlitt schwere Kopfverletzungen. Er berichtete, dass noch Tage später immer wieder Leichen an Land getrieben worden seien, insgesamt laut seinen Angaben wohl mehr als 100.

Es sollten noch weitere Versuche entweder bei „Massiven Attacken“ oder aber „auf die sizilianische Art“ folgen, bis André letztlich von Tanger aus in einem Zodiac-Schlauchboot die spanische Küste des europäischen Festlands am 11.08.2014 erreichte. Seit einigen Monaten ist er nun in NRW.

 

(Der Text basiert auf einem Interview vom 23. Januar 2015. Die Fachstelle dankt Ulla Rothe für die Vermittlung des Kontakts)

 

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