Am Beispiel Westafrikas
Ein Großteil der heutigen Migration ist auf mangelhafte Perspektiven – etwa fehlende Arbeits-, Bildungs- oder Aufstiegsmöglichkeiten und daraus resultierende, finanzielle Notsituationen – zurückzuführen, die nicht zuletzt mit historisch gewachsenen Ungerechtigkeiten zusammenhängen und die oftmals durch die fortschreitende Globalisierung vielerorts verstärkt werden.
Diese Migration jedoch abwertend als profitorientierte Wirtschaftswanderung zu bezeichnen, würde allerdings die Vielfalt der jeweiligen Schicksale ignorieren. Diese ökonomischen Wanderursachen lösen vor allem eine Binnenwanderung aus, wobei insbesondere die Wanderung in städtische Ballungsräume eine Rolle spielt, die neben der hohen Geburtenrate für die rasche Urbanisierung in vielen Gebieten Westafrikas verantwortlich ist. Dieses ökonomisch motivierte Wanderungsmuster hat jedoch oftmals ökologische Ursachen – besonders wenn es sich um Migration aus von zunehmend durch Trockenheit und Dürre betroffene Regionen der Sahelzone in Städte wie Dakar, Bamako, Ouagadougou, Niamey oder Kano handelt. Während für einen Teil dieser Migrantinnen und Migranten die jeweilige Stadt nur eine Transitstation und nicht das anvisierte Ziel darstellt, bleibt der andere Teil dort.
Flucht aus einer als unbefriedigend empfundenen Situation sowie der Versuch der Entfaltung des eigenen Potentials in einem anderen (teilweise außerafrikanischen) Land scheint einer der zentralen Faktoren beim derzeitigen Migrationsgeschehen zu sein.
Selbst denjenigen, die keine akute Not leiden und dennoch ihre Heimat verlassen, um woanders möglicherweise bessere Lebensbedingungen anzutreffen, kann kein Vorwurf gemacht werden: Die verzerrte Medienberichterstattung sowie westliche Werbung oder Daily Soaps (beziehungsweise Telenovelas) können auch bei eher gut situierten Menschen die Sehnsucht nach einem Leben im vermeintlichen Paradies wecken, da ein Mensch oft seine Situation durch den Vergleich mit finanziell Bessergestellten erst definiert und sich daher unter Umständen als verhältnismäßig arm empfindet. So können sich auch AfrikanerInnen, die der Mittel- oder gar Oberschicht angehören, im internationalen Vergleich benachteiligt fühlen.
Wenn es sich um gut ausgebildete und in der Heimat benötigte Fachkräfte handelt, ist diese Form der Migration, die als brain drain oder Elite Migration bezeichnet wird, besonders gefährlich, da sie mittel- oder langfristig zur Verschlechterung der Gesamtsituation in einem Land führen kann und somit wiederum die Abwanderung der Massen fördert. Dieser Kreislauf verdeutlicht, wie bestehende Gründe für Migration in einer bestimmten sozialen Gruppe und die damit verbundene Abwanderung zu neuen Gründen für Migration in einer anderen Gruppe führen können: Wenn beispielsweise immer mehr Ärztinnen und Ärzte aus einem Land abwandern (oder falls sie ihren Abschluss außerhalb gemacht haben, gegebenenfalls nicht mehr zurückkehren), da die Verdienstmöglichkeiten nicht lukrativ genug sind, kann die zunehmend mangelhafte medizinische Versorgung bei davon besonders betroffenen Menschen, die sonst eventuell geblieben wären, der Grund oder zumindest ein Auslöser für ihre Abwanderung sein. In vielen anderen Bereichen, in denen qualifizierte Fachkräfte durch Migration der Gesellschaft des Herkunftslands nicht mehr zur Verfügung stehen, verhält sich das ebenso. Der seit längerer Zeit zunehmend ins Gespräch gebrachte Begriff brain gain – also der ökonomische und somit soziale Nutzen, der beispielsweise durch rückkehrende, hochqualifizierte Fachkräfte in die jeweiligen Herkunftsstaaten entsteht, kann – zumindest zurzueit – die negativen Folgen von brain drain in der Regel nicht wirklich kompensieren.
(Vorliegender Text basiert auf einem Text aus: Serge Palasie; Migration in und über Westafrika – Theorien, Illusionen und Realitäten; Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2011.)